Oder: Warum Superhelden-Kostüme nicht real sind

Unsere Haut ist ein großes Wunder. Sie passt sich allen unseren Bewegungen an, ohne dass wir groß darüber nachdenken. Und trotzdem ist auch die Haut irgendwann nicht mehr faltenfrei. Wie können wir dann von unserer Kleidung erwarten, immer glatt und faltenfrei am Körper zu liegen? Richtig: Gar nicht.

Wir brauchen Mehrweite, um uns in unserer Kleidung bewegen zu können

Nur wo genau? Und wie viel? Das zu verstehen ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu passender Kleidung. Beziehungsweise auf dem Weg, überhaupt die richtige Größe auszuwählen. Im Schnittmuster ist die Mehrweite bereits enthalten. Wir können also nicht den Schnitt ausmessen und ihn direkt mit unseren Körpermaßen vergleichen. 

Beim Schnittmusterkauf sind (hoffentlich!) die Körpermaße als Größentabelle angegeben. Das ist gut, denn diese Maße können wir einfach mit unseren vergleichen. Das ist meistens der einzige Hinweis, wonach du die Größe auswählen kannst. Trotzdem weißt du dann noch nicht, wie eng oder wie locker das Teil später an deinem Körper sitzt und wie bequem es dir sein wird. Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Bequemlichkeitsempfinden – das kommt auch noch dazu!

Wie viel Mehrweite in ein Kleidungsstück eingerechnet wird, hängt von drei Faktoren ab.

1.

Das Modell

Sitzt es eng am Körper oder eher lässig-weit? Wie ist es vom Design her gedacht?

2.

Was trägt man darunter?
Mäntel und Jacken brauchen mehr Mehrweite als eine Bluse. Und eine Bluse braucht mehr Mehrweite als ein Unterhemd. Logisch. 

3.

Das Material
Dehnbar oder nicht? Das ist hier die Frage.

Und wo wird diese Mehrweite jetzt genau hinzugefügt?

Den größten Bewegungsradius haben unsere Arme, deshalb ist die Mehrweite auf Brusthöhe am wichtigsten. Im Rückenteil wird etwas mehr Spielraum benötigt, damit wir die Arme bequem nach vorn strecken können. Versuch mal in einem engen, nicht dehnbaren Oberteil mit Ärmeln Fahrrad zu fahren. Das macht keinen Spaß.

Vorn wird etwas weniger Mehrweite gebraucht, da wir die Arme nicht so gut nach hinten strecken können. (Schlangenfrauen und -männer vielleicht ausgenommen).

Alles gut und schön. Aber WIE VIEL? Jetzt mal Butter bei die Fische!

Ok, ok. Hier kommen Zahlen:

Bei einem körpernahen, nicht dehnbaren Oberteil werden auf den gesamten Brustumfang ca. 11-12 cm zugegeben.

Dabei wird im Rückenteil ca. 1-2 cm mehr zugegeben als im Vorderteil. Da man beim Schnittzeichnen und beim Zuschneiden immer nur mit dem halben Körperumfang arbeitet, ist in unserem Beispiel das halbe Rückenteil 3,5 cm weiter als das halbe Körpermaß, das halbe Vorderteil ist 2,5 cm weiter als das halbe Körpermaß. Gemessen von der vorderen bzw. hinteren Mitte bis zur Seitennaht unterhalb des Armlochs.

Wenn du jetzt denkst: Hui, 12 cm mehr, das ist aber viel! Lass dir sagen: Das klingt vielleicht viel, ist es aber nicht.

Die Maus am Äquator

Vielleicht kannst du dich an das Maus-am Äquator-Gedankenexperiment aus dem Matheunterricht erinnern? Keine Angst, ich will hier keine Schultraumata wieder aufleben lassen. Nur ganz kurz:

Wenn man ein Seil um den Äquator legen würde, das einen Meter länger ist als der Erdumfang, und man dieses Seil so um die Erde legen würde, dass der Abstand von der Erdoberfläche überall gleich wäre – würde eine Maus darunter durch kriechen können?

Die überraschende Antwort ist: Obwohl der Erdumfang nur um einen Meter verlängert wird – was auf die Länge des Erdumfangs bezogen ja lächerlich wenig klingt – beträgt der Abstand des Seiles von der Erdoberfläche 15,9 cm. Da kann die Maus locker durch spazieren. 

Umgerechnet auf unsere Zahlen heißt das, eine Mehrweite von 12 cm bezogen auf den Körperumfang ergibt ca. 1,9 cm Luft zwischen Körper und Stoff. Darunter kann man sich endlich was vorstellen, oder?

Eine andere wichtige Erkenntnis daraus ist: Es ist egal, wie groß der ursprüngliche Umfang ist – wenn wir den Umfang um 12 cm verlängern, ist der Abstand immer 1,9 cm. Ob du jetzt Größe 38 oder 58 trägst. Das macht die Sache etwas einfacher.

Um das Ganze noch anschaulicher zu machen, habe ich meine Mini-Schneiderpuppe zu Hilfe genommen.

Eine Schneiderpuppe im Maßstag 1:4. Um die Puppe ist ein Maßband gelegt, das einen Brustumfang von 25,5 cm zeigt.
Meet Mildred

Sie hat einen Brustumfang von 25,5 cm. Addiert man 12 cm dazu, ergibt das 37,5 cm

Die volle breite

Wenn ich einen Papierstreifen um sie lege, der 37,5 cm lang ist, ergibt das den Abstand von ungefähr 2 cm. 

Wir erinnern uns: Sobald der Umfang um 12 cm vergrößert wird, vergrößert sich der Abstand um 1,9 cm


2 cm sind für eine Schneiderpuppe im Maßstab 1:4 natürlich viel.

Deshalb habe ich das Experiment noch einmal im Maßstab wiederholt.


Im massstab 1:4

Wenn ich die Mehrweite maßstabsgetreu einfüge - also 3 statt 12 cm -  bekommen wir ein ungefähres Bild davon, wie 12 cm Mehrweite auf unsere Körperfülle bezogen aussieht. 

Fazit

Ich hoffe, dass dir dieses Wissen hilft, wenn du beim nächsten Nähprojekt ins Zweifeln kommst, welche Größe du zuschneiden sollst. Ein guter Tipp, wenn es um die Größenauswahl und die Mehrweite geht ist immer, ein vergleichbares Kleidungsstück aus einem ähnlichen Material nachzumessen.

Was ebenfalls hilfreich ist: Das Maßband inklusive der zusätzlichen Weite einfach einmal um dich rum zu halten. So ähnlich wie mit dem Seil um den Äquator. Die reinen Zahlen können dich nämlich leicht in die Irre führen. Oder hättest du gedacht, dass 12 cm das Minimum sind? (Es gibt natürlich Ausnahmen wie enge Sporttrikots oder Mieder oder Ähnliches.)

Was ist deine größte Herausforderung bei der Größenauswahl? Oder hast du damit gar kein Problem? Hinterlasse mir doch einen Kommentar oder schreib mir an post[at]sabinekeller.de


P.S.: Wenn du dich fragst, woher ich die kleine Schneiderpuppe habe: Die habe ich nach diesem Schnittmuster selbst hergestellt. Aber eine kleine Warnung: Die englische Anleitung ist zwar sehr gut, aber die kleine Puppe mit ihren engen Kurven ist ziemlich schwierig zu nähen. Definitiv kein Anfängerprojekt!



  • Liebe Sabine, es macht immer große Freude, deine tollen Berichte und Tipps zu lesen, ich freue mich immer sehr darüber, und bin auch sehr gespannt, was du als Nächstes erklärst.
    Du schreibst mit so viel Feingefühl, und es ist für jeden verständlich und macht wirklich Sinn.
    Vielen Dank für die Zeit, die du in dieses Projekt investierst, du bist SUUUUUPPPEEEERRRRR!!!

  • {"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

     

    >